Kurzrezensionen - update 04.12.2024
Das Lager als Bild. Zsuzsa Merényis Bildertagebuch aus dem KZ-Bergen-Belsen, Göttingen: Wallstein 2021, 106 S.
Bergen-Belsen ist für viele mit dem Namen Anne Frank verknüpft, die im März 1945 dort starb.
Zunächst als „Austauschlager“ geplant wurde es ab Ende 1944 zu einem Auffang- und Sterbelager. Mindestens 52.000 Menschen kamen dort ums Leben, 14.000 davon noch nach der Befreiung durch britische Soldaten.
Zsuzsa Merényi (1925-1990) kam Anfang Dezember 1944 als Susanne Schuller in Bergen-Belsen als 19jährige mit ihrer 11 Jahre älteren Schwester Lea an. Vom ersten Tag an bis nach den Tagen der Befreiung malt Zsuzsa Merényi ihre Erfahrungen in einen Notizkalender, bzw. Schulheft. Das Buch zeigt dieses auf 60 Seiten in leicht vergrößerter Darstellung und mit der deutschen Übersetzung der ungarischen Beschreibungen, sowie weiterführenden Erläuterungen, die Zsuzsa Merényi noch kurz vor ihrem Tod in einem Interview ergänzte. Einleitend wird in dem Buch das Konzentrationslager Bergen-Belsen, darunter noch einmal speziell das kulturelle Leben dort und das „Ungarnlager“, in dem Zsuzsa Merényi mit ihrer Schwester untergebracht war und ihr Lebenshintergrund (mit privaten Fotos und Abbildungen von Dokumenten) vorgestellt.
Bei der Anfertigung ihres Bildertagebuchs hatte Zsuzsa Merényi ihre Mutter (die im Ghetto in Budapest starb) im Blick und so wollte sie „nichts Tragisches drin“ sehen. Doch die Ängste, Hoffnungen und Absurditäten im Lager kommen zum Vorschein. Wie für eine Zeitung malt sie, was sie erlebt und ihr Mithäftlinge erzählen: „Wir essen zu Mittag“, „Wir werden ausgeführt“, „Ein Wunschtraum“, „Die aus der Weberei“. Diese außergewöhnlichen „Reisezeichnungen“ (wie Zsuzsa Merényi sie selbst nennt) schaffen eine – teilweise auch ironische - Distanz, die zugleich die vielen „Leerstellen“ im Erlebten erahnen lässt. Sie unterscheiden sich dabei von vergleichbaren anderen Bildserien von Häftlingen in Konzentrationslagern.
Geeignet halte ich das Buch für eine biografische Annäherung sowie als Einstieg in das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager.
Walter Jessel, Spurensuche 1945. Ein jüdischer Emigrant befragt seine Abiturklasse, Frankfurt: Fachhochschulverlag 2020, 245 S.
Direkte Zeitzeugnisse, unmittelbar 1945/1946 verfasst, sind selten. Es gibt Tagebücher aus den Jahren 1933-1945, wie das bekannte von Viktor Klemperer „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ oder Anna Haags "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode", oder Bernard Kliegers Aufzeichnungen nach seiner Befreiung "Der Weg den wir gingen".
Das Buch von Walter Jessel - „Class of ‘31“ im Original – beeindruckt, weil es unmittelbar 1945 Stimmen von Deutschen auffängt, wie sie „das tausendjährige Reich“ erlebten. Es sind Stimmen von Anhängern, von Mitläufern, von Distanzierten und Widerstandskämpfern – und alle waren sie, soweit sie noch lebten, Klassenkameraden von Walter Jessel bis zum Abitur 1931 an der Frankfurter Musterschule. Dieser hatte bereits 1933 Deutschland verlassen, 1938 wanderte er aus Palästina in die USA ein und kam von dort als Nachrichtenoffizier der 3. US-Armee 1945 nach Deutschland zurück.
Walter Jessel verfolgt die Frage, welche die überlebende Ehefrau des Klassenkameraden Arnulf Krauth, eines 1945 ums Leben gekommenen kommunistischen Widerstandskämpfers, stellt: „Was hielt die Deutschen zwölf Jahre lang davon ab, das Naziregime von der Erdoberfläche zu fegen?“
Jessel sieht schon 1945, dass die Nürnberger Prozesse zwar wichtig sind, aber davor zurückschrecken, „die menschlichen Grundlagen dieses höllischen Regimes zu erforschen.“
Es sind Grundfragen, die auch heute die Arbeit mit Zeitzeugen betreffen. Jessel findet einige Erklärungen, auch Antworten bei seinen Gesprächspartnern.
Das Buch bietet darüberhinaus noch sehr viel mehr. So auch einen Einblick in die Stimmungslage von Deutschen 1945, das Gefälle von Stadt und Land zu dieser Zeit, Eindrücke von Landschaften. Margrit Fröhlich, die Übersetzerin und Kommentatorin hat im Nachwort formuliert, was ebenso Motivation für die Begegnung mit Zeitzeugen ist: „Die (…) historischen Ereignisse bedürfen der lebendigen Erinnerung, so wie die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen für das politische Geschehen heute .. .“
Margot Friedländer/ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ich tue es für euch. Was wir von einer hundertjährigen Holocaustüberlebenden über Vergebung, Hoffnung und Toleranz lernen können, München: Gräfe und Unzer Verlag, 2021, 189 S.
Vor ihrem hundertsten Geburtstag am 5. November 2021 erscheint dieses Gespräch von Margot Friedlänger mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und dem Journalisten und Herausgeber Sascha Hellen. Ihre Biografie „Versuche, dein Leben zu machen“ hat Margot Friedländer 2008 geschrieben, kurz bevor sie aus New York nach Berlin dauerhaft zurückkehrte. Die letzten Worte ihrer Mutter im Titel der Autobiografie klingen auch in diesem Gespräch immer wieder an. „Menschen lieben“, „an das Gute im Menschen glauben“, „eine Chance nutzen“, „Hoffnung haben“, „Mensch sein“ – diese Überzeugungen von Margot Friedländer kommen auch bei jungen Menschen an. Tausenden Schüler*innen ist sie begegnet und freut sich über all die Dankesbriefe, die ihr zeigen, dass sie etwas bewirken kann im Erzählen ihrer Geschichte. Margot Friedländer sagt wie viele Zeitzeugen, dass das Durchleben ihrer Vergangenheit im Erzählen auch „eine Therapie für mich, die Dinge auszusprechen“ sei. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die heute Antisemitismusbeauftragte von NRW ist, bringt immer wieder aktuelle Bezüge ein, so die Einschätzung, dass sich Antisemitismus „in den letzten Jahren viel stärker verbreitet hat“. Auch die Frage, was Zeitzeugenbegegnungen heute und in Zukunft bedeuten und deren Wirksamkeit werden angesprochen. So findet auch das Projekt „Zweitzeugen“ seine Erwähnung. Es ist ein zutiefst optimistisches Buch, was nicht nur am Optimismus von Margot Friedlänger hängt. Einige Fragestellungen tauchen zwar wiederholt auf, was den von Margot Friedlänger gegebenen Antworten zu einer Deutlichkeit verhilft. Ein Teil des Buches betrifft auch die 52 Jahre lange Ehe mit Adolf Friedländer, die Zeit in den USA und das Hineinfinden in die Freiheit nach 1945. Und immer ist da der Schatten der Vergangenheit, der ihren Mann in seinen letzten Lebensmonaten einholt. Ja, „wir müssen dankbar sein, dass Zeitzeugen bereit sind, ihre Geschichte, ihr Erlebtes an uns weiterzugeben.“ (129), wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagt.
Per Leo, Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur, Stuttgart: Klett-Cotta, 2021, 272 S.
Ist Erinnerungskultur vorbei? Ist sie gut? Braucht es neue Namen? Sind die „Lasten des Nationalsozialismus (…) weitgehend abgetragen, die Aufträge, die er uns hinterlassen hat, alles in allem erfüllt“ (243)?
Per Leo bricht mit diesem Buch viele scheinbaren Selbstverständlichkeiten auf.
Doch die so eingestreute Bemerkung „Wäre ich noch ein Historiker, dürfte ich mir die folgende Vermutung nicht erlauben. Aber ich habe mit der Schriftstellerei ja nicht umsonst einen Beruf ergriffen, der zumindest in Deutschland die Lizenz zur nationalen Kathederrede enthält.“ (159) lässt zumindest die Vermutung aufkommen, ob dieses Buch eine Kathederrede ist, welche sich an vielen Historikern abarbeitet, die einen ins Töpfchen, die anderen ins Kröpfchen. Wobei sich nicht immer klar die Ironie des Autors auch in seinen (Selbst-)Zuschreibungen erkennen lässt.
Denn Per Leo scheint immer als Historiker, als Schriftsteller und als Enkel eines SS-Großvaters nachzusinnen über „die vielfältige Präsenz des Nationalsozialismus im Leben der Bundesrepublik Deutschland“. Erhellend ist dabei vieles, und das ein oder andere auch bekannt, über die Jahre unmittelbar nach 1945, die 1980er Jahre, die ostdeutsche Revolution von 1989 mit neuen Einsichten, wechselseitigen Zuschreibungen, wer die „besseren“ Deutschen seien: das sich von einer Diktatur selbst befreiende „Volk“ oder der von der amerikanischen Besatzung in die Entnazifizierung entlassene westliche Teil? Ausgehend von dem „Singularitätssatz“ des Holocaust als These oder Dogma, schreibt Leo am Ende des Buchs richtigerweise von der Spezifik der Shoah als größten Völkermord der Weltgeschichte. Immer wieder löckt er wider den Stachel der deutschen „Erinnerungsweltmeister“ und einer „Vergegenwärtigungstrance“, die „das Publikum im moralisch zweifelsfreien Gedenken in eine selbstgenügsame, gegenwartsblinde Ruhe“ (137) wiegt. Er bindet dies ein in neue Perspektiven, in vielfacher Hinsicht, beispielsweise aus polnischer Sicht, aus der Perspektive des Nah-Ost-Konflikts, aus der Perspektive des US-amerikanischen Holocaust-Gedenkens und vor allem immer im Blick auf ein deutsch-jüdisches Verhältnis.
Sehr gut gefallen hat mir sein Begriff von „der Unaufgeräumtheit der Geschichte“ (u.a.235), den er in einen Traum eines zukünftigen Leitbilds für den Geschichtsunterricht einbindet. Dazu gehört auch die so wichtige und wiederholt betonte Unterscheidung von Opferidentifikation oder Täteridentifikation.
Bezüglich einer zukünftigen Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ist sein Begriff einer lebendigen Geschichtskultur entscheidend. Diesen Begriff zu konkretisieren ist – bei allen bleibenden Fragezeichen und Anfragen - eine Aufgabe, die sich nach der Lektüre dieses Buchs für künftige Zeitzeugenprojekte stellt.
Eva Szepesi, Ein Mädchen allein auf der Flucht. Ungarn – Slowakei – Polen (1944 - 1945) /. Unter Mitarb. und eingel. von Babette Quinkert, Berlin : Metropol 2011, 157 S. [mit vielen sw Familienfotos]
Ein Telefonanruf Mitte Dezember 1994 hat die hier verschriftlichten Erinnerungen von Eva Szepesi ermöglicht. Die Shoah Foundation befand sich damals im Aufbau des Visual History Archive. So ist auch Eva Szepesis Geschichte dort für alle Welt präsent.
„Meine vom Fieber brennenden Lippen spürten eine Hand, die mich mit frischem kaltem Schnee fütterte. Der Schnee tat gut, er stillte meine Schmerzen. Für einen kurzen Moment öffnete ich die Augen, dann versank alles wieder im Dunkeln. … .“ So hat Eva Szepesi geb. Diamant den Vormittag des 27. Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau erlebt. Es war das Ende einer monatelangen Flucht seit April 1944, bei der sie alle ihr lieben Menschen zurücklassen musste. Eine glückliche Kindheit mit dem „Duft von Aprikosen“, einem kleinen Brüderchen, als „Kronprinzessin“, glücklichen Erinnerungen an die slowakischen Großeltern. Sie erlebt die Zivilcourage ihrer Mutter und weiterer jüdischer Eltern, die sich gegenüber einer neuen „arischen“ Lehrerin erfolgreich wehren „– zum ersten und für viele zum letzten Mal.“ (S. 44) Die Jahre von 1938 bis 1944 umfassen nur sechs Seiten. Wahrscheinlich ist es der Schmerz der Erinnerung, der nicht in Worte gefasst werden kann.
Im September 1945 sieht Eva Szepesi Tante Olga und Onkel Imre wieder. „Ich traute mich nicht, nach meinen Eltern oder Tamas zu fragen. Es war wie eine stillschweigende Vereinbarung…“ (S. 89) „Ich fand schnell neue Freunde.“(S. 93) Und mit dieser Aufgeschlossenheit und trotz der wenigen Lebensmitteln, die sie an die Wassersuppe von Auschwitz erinnerten, lernte sie ihren künftigen Ehemann kennen (S. 101). „Bandi“ Andor Szepesi, den sie 1951 heiratet. Die Arbeit ihres Mannes macht einen längeren Aufenthalt als Handelsvertreter in Frankfurt notwendig. „Ich konnte mir nicht vorstellen, auch nur einen Fuß in dieses Land zu setzen.“ (S.128) Wut und Zorn und Erschrecken kommen in ihr hoch. Doch dann sagt sie leise zu ihrer kleinen Tochter: „Du wirst nie Angst haben müssen. Ich werde dich immer beschützen, was auch geschieht. Ich werde nie jemanden in deine Nähe lassen, der dir etwas antun möchte.“ Eine großartige Zusage, erwachsen aus eigener Erfahrung und Hoffnung.
Doch die Erfahrungen der Jahre 1944/1945 holen sie immer wieder ein. Sie denkt, „es sei das Beste zu schweigen.“ Nach dem ungarischen Volksaufstand ist klar, dass die Familie nicht mehr nach Budapest zurückgehen, sondern in Frankfurt bleiben würde. Und so gibt es bis heute am Dornbusch in Frankfurt das Geschäft „Pelze am Dornbusch“.
Doch „die Vergangenheit lastet immer noch schwer auf mir“ und „die Angst weicht nie.“ Eine große Dankbarkeit erfüllt einen, dass Eva Szepesi ihr Schweigen gebrochen hat.
Hédi Fried, FRAGEN, DIE MIR ZUM HOLOCAUST GESTELLT WERDEN, 160 Seiten, gebunden mit Lesebändchen seit 2019, als Taschenbuch seit 2020, Originalvlg.: Natur & Kultur, Stockholm 2017 , Originalt.: Frågor jag fått om Förintelsen, Übers.: Susanne Dahmann
Die Auschwitzüberlebende Hédi Fried hat etwas sehr Wertvolles getan. In komprimierter Form gibt sie Auskunft zu ihrer Überlebensgeschichte. Und das tut sie entlang von Fragen, die ihr (schwedische) Schüler*innen gestellt haben. So nimmt sie uns mit in die Dynamik des dritten Teils eines schulischen Zeitzeugengesprächs. Dieser war ihr neben einer geschichtlichen und einer lebensgeschichtlichen Einordnung immer der Wichtigste. "Es gibt keine dummen Fragen und auch keine verbotenen, ..., aber auf manche Fragen gibt es keine Antwort." (S. 9)
Die gestellten Fragen zeigen, wie intensiv Schüler*innen bei Zeitzeugenbegegnungen zuhören. Sie geben damit der Geschichte der Zeitzeugin - hier Hédi Fried, aber das sagt die eigene Erfahrung vieler schulischer Zeitzeugengespräche auch im Allgemeinen - eine Tiefe und "Präzision". Die Unfassbarkeit des Geschehenen fassbar zu machen sind sie so ein Versuch.
Können Sie vergeben? Hassen Sie die Deutschen? Erkennen Sie sich in den Flüchtlingen heute wieder? Gab es "nette" SS-Soldaten? Was half Ihnen zu überleben? Die Fragen und die Antworten machen noch einmal die Absicht deutlich, welche das ganze Buch durchzieht: "Wir als Individuen haben einen eigenen Willen und eine Verantwortung ..." und können diese übernehmen und damit eine Wiederholung von Geschichte vermeiden.
Am 19. November 2022 ist Hédi Fried in Bromma, nordwestlich von Stockholm gestorben.
Bärbel Schäfer, Meine Nachmittage mit Eva. Über Leben nach Auschwitz, Hardcover mit Schutzumschlag, 224 Seiten, 1 s/w Abbildung. Mit einem s/w Foto, Gütersloher Verlagshaus 2017
Sechs Jahre nach Eva Szepesis Biografie versucht Bärbel Schäfer angeregt durch die „Nachmittage mit Eva“ ihre eigene lebensgeschichtliche Verstricktheit in „Täter“-Biografien anzuschauen - „…in einer anderen Welt, einer des Erzählens und Zuhörens.“
Und wenn man „Ein Mädchen allein auf der Flucht“ kennt, entdeckt man nun Neues, sieht so etwas wie eine „Entwicklung“ bei Eva Szepesi und erfährt von der Gewissheit, vor der sie sich lange geweigert hat, sie zu akzeptieren. Berührend erzählt Bärbel Schäfer, wie Eva Szepesi im Mai 2016 zum dritten Mal nach Auschwitz fährt. Tochter Anita und die Enkelkinder Leroy (16) und Celina (18) sind dabei. In der Dauerausstellung im Block 27 des Stammlagers Auschwitz I, die von Yad Vashem verantwortet wird, steht am Ende das alphabetische monumentale „Buch der Namen“ von Millionen ermordeter Juden. Celina schaut beim Buchstaben D nach und ruft „‘Omi, hier steht der Name deiner Mutter.‘ Eva macht eine abwinkende Geste. ‚Wann ist sie geboren?‘, fragt das Enkelkind. Eva winkt erneut ab. Sollte sie hier, im Mai 2016, die Wahrheit über den Verbleib ihrer Mutter und ihres Bruders finden? Sollte hier Schluss sein mit Verdrängung? (…) Dort steht er. Der Name ihrer Mutter. … Schwarz auf weiß. Gewissheit. Eva bricht in Tränen aus. … Über siebzig Jahre lang wollte Eva der traurigen Wahrheit nicht ins Gesicht blicken.“ (196ff.)
Das Buch ist ein wichtiger Kommentar und eine wichtige Ergänzung zu Eva Szepesis Autobiografie. Und dies gerade in der Verschiedenheit der Biografie einer Überlebenden und einer, welche der Verstrickung ihrer eigenen Familie auf die Spur kommen will und so viel Schweigen und Ablehnung spürt. Und immer wieder tauchen die Fragen auf, die sich auch bei Zeitzeugenbegegnungen stellen: können wir aus der Geschichte wirklich lernen? Was können wir wissen?
Es ist ein wichtiges Buch, weil es die Frage nach der heutigen eigenen Verantwortung (auch z.B. in Kapitel 22 „Wehret den Anfängen“) auf dem Hintergrund des Eintauchens in die Lebensgeschichte einer Auschwitzüberlebenden stellt.
Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, (Originalt: KL. A History of the Nazi Concentration Camps) Paperback , Klappenbroschur, 992 Seiten, m. Abb., Pantheon-Verlag 3. Auflage 2018
Seit dem Erscheinen der englischen Originalausgabe in 2015 wurde dieses Buch in vielen Rezensionen zum neuen Standardwerk zur Geschichte der KZs als meisterhaft, tief beeindruckend oder analytisch scharf bezeichnet.
Was dieses Buch gerade im Zusammenhang der Zeitzeugenarbeit so einzigartig macht, ist die immer wieder erfolgende Verknüpfung geschichtlicher Zusammenhänge, Beschreibungen von Vorgängen, Planungen Görings oder Himmlers mit den Einzelschicksalen von KZ-Häftlingen. Das macht die notwendige Darstellung so beklemmend, und hinterlässt manchmal auch unbändigen Zorn darüber, was Menschen hier angetan wurde. Aber die Institution der KZ verkörperte eben am umfassendsten den Terror, der im Mittelpunkt des Dritten Reichs stand. Nikolaus Wachsmann schafft es also, was Wolfgang Benz einmal formulierte, zum Verständnis der menschlichen Dimension dieser historischen Ereignisse Berichte von Zeitzeugen einzubinden und damit wiederum in diesem Gesamt eine Ahnung von der Dimension der katastrophalen Situationen für die KZ-Häftlinge zu vermitteln.
Bevor ich das Buch in die Hand nahm hatte ich mich auf einen aktualisierten Überblick über die Konzentrations- und Arbeitslager (zum Begriff schreibt Wachsmann von einer anfänglichen unsystematischen Verwendung des Begriffs, neben Verwahrungsanstalt, Arbeitsdienstlager oder Durchgangslager, vgl. S.44) eingestellt und war enttäuscht, dass ich im Inhaltsverzeichnis das von mir gesuchte Lager in Polen nicht fand. Doch das Buch geht in seiner chronologischen Herangehensweise weit über diese Erwartung hinaus. Wichtige Themen wie Entwicklung des Lagersystems, Mentalität der Lager-SS oder der Kapos und dem Zusammenhalt unter den Häftlingen verknüpft Wachsmann voller Empathie mit Einzelschicksalen. Es ist erstaunlich und unglaublich, wie er eine Überfülle an Quellen, die in einem über 200-seitigen Anhang zum Vorschein kommt, in Einklang bringen kann.
Das einzige, was leider fehlt, ist ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, das würde neben der zweiseitigen Inhaltsübersicht manchmal helfen, z.B. zu Kapiteln wie „Himmlers Modelllager“, „Ausweitung der ‚Aktion 14f13‘“, „Der Tötungskomplex Birkenau“ oder „Mord im Baltikum“ ´zu kommen.
Emanuel Bergmann, Der Trick (Roman), Zürich : Diogenes 2017, 395 Seiten
Zwei Zeitzeugen – Überlebende der Shoah - , die ein gemeinsames Schicksal verbindet stellt Emanuel Bergmann in seinem Debütroman vor. Parallel erzählt er zwei Vater-Sohn-Geschichten. Die eine beginnt in Prag in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, die andere datiert Anfang der 2000er Jahre. Und irgendwann wachsen diese beiden Geschichten aufeinander zu. Handlungstragend ist dabei die Verzauberung durch die Magie, den Halbmondmann und dann den großen Zabbatini. Handlungstragend aber ist auch die Shoah mit ihren Traumata über die Generationen hinweg. Angesichts der Toten und Ermordeten in Theresienstadt überkommt Mosche Goldenhirsch, den großen „Zabbatini“, Staunen und Scham: „Der Tod eines jeden dieser Menschen beschämte ihn. Es beschämte ihn, dass er lebte, es beschämte ihn die Vergänglichkeit und der unermessliche Verlust all dessen, was jeder dieser Menschen gewesen war und hätte werden können.“ Eine Erkenntnis, von der Emanuel Bergmann sagt, dass sie in seiner Familie überliefert sei. Ein Roman, der die Fragen, welche Verwundungen und Grausamkeiten Menschen zugefügt wurden und werden aus dem Verdrängen nach oben holt. Und doch auch das Leben feiert. „Allein schon da zu sein, allein schon zu leben ist ein Gebet.“ so spricht Laibl Goldenhirsch am Anfang des Buches und auch sein Sohn am Ende des Romans.
Ralph Walta, Der Onkel, den ich nie kennenlernte, oder das Trauma meiner Familie, Leipzig : Hentrich & Hentrich 2023, 102 Seiten : davon 18 S. Fotos, Zeichnungen und Dokumente
Der Titel des Buches mit dem Foto von Franz Walta sagt schon viel über den Inhalt aus, bevor man das Buch aufschlägt. Und der Titel insinuiert, dass man hineingenommen wird in eine persönliche Erzählung. Doch am Ende des Buches fragte ich mich, wo genau kommt der Erzähler als Zeitzeuge im Buch vor? Wo wird seine persönliche Betroffenheit sichtbar außer in der ersten Seite des Vorworts, wo ihn „ein Frösteln [überkam] und mein Magen zog sich zusammen.“(S.7)?
Vielleicht weil er sich von Anfang an ein pädagogisches Ziel setzt: „aufzuzeigen, wie schnell eine sicher geglaubte Existenz ins Wanken geraten kann“. Das ist ehrenwert. Doch mir scheint der Titel des Buches und seiner Verheißungen im Inhalt des Buches wenig vorzukommen. Stattdessen gibt es viele historische Erklärungen und Einordnungen, die mir scheinbar zufällig gewählt sind und nicht belegt. So „galten die Tschechen als unsichere Kantonisten“ (S. 39). Gut, damit wird der Autor vielleicht seiner Zielgruppe „jungen Menschen, die noch nicht viel aus dieser Zeit erfahren haben“ (S.9) gerecht. Dann wäre dies besser als Jugendbuch vermerkt worden.
Die Fotos und Zeichnungen der Seiten 50 bis 66 hätten besser am Ende des Buches ihren Platz gefunden, oder wären chronologisch im Buch aufgetaucht. So kommen sie sehr überraschend an einer Stelle, in der einiges noch nicht berichtet wurde, was in den Bildern erzählt wird.
Für mich bleiben die Menschen, außer in den Fotos, in dem Buch seltsamerweise blass. Als ob das Trauma der Familie dahinein wirke und es unmöglich mache, innere Befindlichkeiten und Emotionen zu beschreiben.
Und die Beziehung Erzähler-Sohn und Bruder-von-Franz-Walta-Vater wäre interessant gewesen zu lesen. Wie hat der Vater und was hat er erzählt? Was kam von Dokumenten oder was wurde von der überlebenden jüdischen Großmutter Ida überliefert (wobei dies einmal erwähnt wird)?
Die Geschichte als solche ist allemal erzählenswert, aber mir scheinen die Ziele und Absichten des Buches mit dem Erzählten nicht übereinzustimmen.
Tim Lorentzen, Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt, Paderborn: Brill Schöningh 2023, 624 S.
Die Seitenzahlen lassen schon vermuten, dass es sich bei diesem Werk um ein wissenschaftliches handelt. Tim Lorentzen habilitierte 2013 mit dieser Schrift. Es ist ein echtes Kompendium der Wirkungsgeschichte (um zunächst einen anderen Begriff als den von Lorentzen verwendeten, wie Gedächtnis oder Erinnerung zu nehmen) in ihrer Vielfalt zu Dietrich Bonhoeffer. Dabei werden sowohl dem Bonhoeffer weniger vertrauten wie vertrauten Lesenden lohnende biografische Erkenntnisse und Einordnungen aufgeschlossen.
Lorentzens Untersuchung zur „Bonhoeffer-Memoria“ (532) schließt mit dem Jahr 2006 ab. Das ist einerseits schlüssig, da in diesem Jahr des 100. Geburtstags von Dietrich Bonhoeffer gedacht wurde und in diesem Rahmen der Begriff des „evangelischen Heiligen“ von Wolfgang Huber (358) erstmals benannt und geprägt wurde. Andererseits ist das auch schade, hätte ich mir doch hier einen möglichen Ausblick erwünscht und eine Einschätzung – gerade aufgrund der voluminösen und detailreichen Forschung – ob es nach den epochalen Schwerpunktsetzungen einer Martyrisierung (1946-1961), Politisierung (1962-1989) und Sanktifizierung (1990-2006) Bonhoeffers, auf eine weitere ihm zuzuschreibende „Rolle“ zulauft, oder etwas Neues sich Bahn bricht. (Vielleicht eher in Richtung eines religiös dialogischen Theologen?) Denn auch wenn diese Arbeit 2013 fertig war, wäre das doch bei Durchsicht für die Druckausgabe im Jahr 2020, die einige Daten aktualisiert, erstaunlicherweise gar bis 2021, möglich gewesen.
Von Anfang an macht Lorentzen klar, dass es ihm mit der Beschäftigung zur Geschichte Bonhoeffers um „grundsätzliche Erkenntnisse über Gesetzmäßigkeiten christlicher Gedächtniskulturen“ (X) oder anders ausgedrückt „um Gesetzmäßigkeiten der Aneignung von Vergangenheit“ (534) geht. So untersucht er das Verhältnis seiner Nachwelt zu Bonhoeffer „unter der Perspektive der Erinnerungskultur“ (12). Lorentzen fällt bezüglich Erinnerung und Strukturen des Erinnerns an den Nationalsozialismus z.B. mit Harry Oelke auf, dass „die kirchliche Erinnerungsgeschichte noch geschrieben werden will“. (18) Lorentzen holt das mit seiner Arbeit hier ein wenig nach. Leider, aber verständlich, großteils nur für die evangelische Kirche. (Dazu später noch mehr.)
Zu Eberhard Bethge (1909-2000), dem besten Freund und ersten großen Biographen von Dietrich Bonhoeffer gibt Lorentzen eine differenzierte Einschätzung ab. So schätzt er dessen lebenslanges Wirken bezüglich der Wirkung Bonhoeffers, sieht aber auch kritisch dessen Sichtweise auf einen „kirchlicherseits hartnäckig gemiedenen Verräter“. (532
Manchmal scheinen mir die Ausführungen Lorentzens zu weit ausholend, und ins Detail gehend von örtlichen Kirchenvorstandsbeschlüssen oder zu detailliert zu den Märtyrern heute (450 ff.) Auch strukturell werden Beschreibungen geschichtlicher Daten und Ereignisse nicht stringent chronologisch in die epochalen Schwerpunktzeiten eingeordnet.
Auch wenn Lorentzen keine biografische Wirkungsgeschichte schreiben will, so fließen doch – notwendigerweise (s.o.) – viele biografische Daten, Schriften, Personen und Ereignisse ein. Diese machen das Buch auch lesenswert. Da sie dem schon ein wenig vertrauten Bonhoeffer neue Nuancen und Detailschärfungen hinzufügen. Und das Buch stellt natürlich bekannte und von Bonhoeffer ausgehende Gewissensfragen, ob es „für die in Deutschland verbliebenen Christen nur das konsequente Vorgehen gegen Hitler“ geben konnte. (77) Und im Zusammenhang mit Fritz Bauers so wichtiger Rolle in der Aufarbeitung der NS-Zeit fällt bei der Betrachtung Bonhoeffers als „politischem Häftling“ dessen Satz „… ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig.“ (184)
Die Rolle der Kirchen nimmt natürlich einen breiten Raum ein mit deren „belasteter Vergangenheit“ (204) Im protestantischen Bereich spielt biblisch natürlich Röm 13 mit der scheinbar christlichen Treuepflicht zur Obrigkeit (118) eine Rolle und die durch Bonhoeffer angestoßene Frage nach einer Ethik als Theologie der verantwortlichen Tat (123) – das sollte auch für heute gelten.
Wie kann christlicher Widerstand eingebettet werden „in die Erinnerungskultur der evangelischen Kirche“, (205) in „die Bedeutung des Gedenkens der Zeugen, in dem die Geschichte lebendig wird.“ (208).
Dass hier mehr die protestantisch Kirche im Fokus steht ist klar, trotzdem werden auch katholischen Einflüsse, z.B. Alfred Delp (208) genannt. Mir scheint, dass hier von katholischer Seite eine ähnliche Untersuchung fehlt, zu Delp oder allgemein zum Verhalten des „katholischen Widerstands“ und seines Einflusses auf die Nachwelt.
Die „Stuttgarter Schulderklärung“ der evangelischen Kirche (65) nimmt notwendigerweise angesichts Bonhoeffers einen breiten Raum ein und deren breite Ablehnung (86). Das Pendant des Hirtenbriefs der katholischen Bischöfe von August 1945 liest sich heute skandalös, wie dort der Begriff „Schuld“ verwendet, die eigene oppositionelle Rolle betont und nicht einmal der Mord an 6 Millionen Juden erwähnt wird.
Und dann wird man an Bonhoeffers Satz „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Aus dem Jahr 1944 (217) erinnert.
Erstaunlicherweise wird in den Jahren nach 1946 im evangelischen Bereich bemerkt, dass das glaubwürdige Zeugnis (der christlichen Märtyrer im Widerstand) dazu führt: „Unsere Predigt wird wieder gehört. Sie erscheint glaubwürdiger als früher.“ (139) Damit Kirche das heute sein kann schreibt Lorentzen ihr für kirchengeschichtliche Gedächtnisforschung ins Stammbuch, sie müsse Strategien von „Selbstexkulpation, Selbstheroisierung und Selbstmartyrisierung“ (534) Fälle von Bekenntnis- und Verständigungsbereitschaft als authentische Zeugnisse des Christlichen gegenüberstellen“. Dies – so könnte man schlussfolgern mit Lorentzen - führte neben einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur auch zu Kirchen, die „zu einer ökumenischen Erinnerungskultur“ gelangen (467).
Auch wenn Klaus von Dohnany nur kurz erwähnt wird (wobei er nicht als Neffe Dietrich Bonhoeffers vorgestellt wird) spielt er doch eine wichtige Rolle in der rechten Einordnung und Würdigung des Widerstands von Dietrich Bonhoeffers, seines Vaters Hans von Dohnany und der anderen im Widerstand (393). Klar äußerte sich Dohnany dabei zum Versagen der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung. Treffend bemerkt die Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft „ihr [Bonhoeffers und seiner Mitverschwörer] Lebenszeugnis spricht für sich“. (398) Dohnany wäre/ist – wie sein Bruder Christoph - ein idealer und exzellenter Zweitzeuge für den Widerstand in den Jahren 1933-1945, neben den von Lorentzen genannten Gedenkorten und Symbolen.
Im Schlusskapitel „Ergebnisse: Christlicher Widerstand in der kirchlichen Gedächtniskultur“ erklärt Lorentzen, warum ihm die Begriffe Gedächtniskultur, Gedächtnisgeschichte und Gedächtnisforschung passender erscheinen als Erinnerungskultur aufgrund der inhaltlichen Ausweitung dieses Begriffes (528ff.). Er sieht die wichtige aktivierende Rolle von Gedächtniskultur, die nicht „Spiegel der Zeitumstände“ ist, sondern „Teil des Geschehens“ (531) oder kurzgefasst „Aktion statt Rezeption“. Die „Geschichte der Bonhoeffer-Memoria … [ist]eine Geschichte ausgesprochen aktiven und aktuellen Handelns.“ (532)
Matthias Thoma, Sonnys Geschichte. Von Ausgrenzung und Eintracht, Frankfurt: Henrich Editionen 2023, 208 S.
Eigentlich sollte dieses Buch "Dritte Halbzeit" heißen, so hatten (Helmut) "Sonny" Sonneberg und Matthias Thoma, der Autor dieses Buches, es vereinbart und darüber gesprochen. Nun sind die fünf Buchkapitel in Fußballersprache geschrieben: Aufstellung (S.8), Erste Halbzeit (S.10), Zweite Halbzeit (S.68), Dritte Halbzeit (S.124) und Nachspielzeit (S.190)
Es ist ein sehr persönliches Buch. Ein Buch auch für die "Eintracht-Familie". Ein wichtiges Buch nicht nur für diesen Fußballverein, der aus seiner Geschichte mit "de Juddebube" heraus, ein großes Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus zeigt. Ein Buch für jeden, der sich mitnehmen lassen will von der Ausstrahlung und Lebensfreude von Sonny. Aber auch von den Narben, die vor allem aus den Jahren 1933 bis 1945 für Sonny geblieben sind. Ein jüdischer Junge, der in Einsamkeit vergeht. Ein Stiefvater, der für diesen Jungen alles tut, was er kann. Eine Mutter, die dem 14-jährigen Sonny in Theresienstadt zur Seite steht. Keiner, der Sonny Sonneberg gekannt hat, legt dieses Buch ohne Tränen auf die Seite.
Man ahnt schon, was in der "Zweiten Halbzeit" nach 1945 kommt, wenn man von dem Untertitel "20 Berufe" liest. Da suchte jemand seine Bestimmung. In der dritten Halbzeit hat er sie als "Rentner am Riederwald" nach und nach gefunden. Nach dem Tod seiner Schwester Lilo ging Sonny nach und nach ab 2019 in Schulen, um seiner Bestimmung als Zeitzeuge gerecht zu werden.
Matthias Thoma ist Dank zu sagen, dass er in kurzer Zeit nach Sonnys Tod und mit seiner eigenen Trauer dieses Buch geschrieben hat, dem man viele Leser:innen wünscht.
Jeremy Dronfield, Fritz und Kurt. Zwei Brüder überleben den Holocaust, München : cbt - Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH 2024, S. 425
Ein Kinder- und Jugendbuch über das Schicksal einer jüdischen Familie aus Wien, den Kleinmanns? Der Autor Jeremy Dronfield hat sich diese Frage gestellt. 2022 war „Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte“ auf Deutsch erschienen. „Eine wahre Geschichte“, wie er unter beide Bücher schreibt. Zunächst für Erwachsene erzählt. Auf Wunsch vieler Leser:innen nun auch für Kinder. Aber nicht nur deshalb, sondern auch in der Begegnung von Kurt Kleinmann – der zweitgenannten Hauptperson des Buches - mit Kindern in Europa entstand die Idee zu diesem Buch. Ein neues Buch ist es aber nicht nur, weil es an Kinder gerichtet ist, sondern weil Dronfield neue Informationen einarbeitet. 2013 stieß er auf die wahre Geschichte der Familie Kleinmann. Da war Fritz Kleinmann schon 4 Jahre tot, aber bis in sein letztes Lebensjahr legte Fritz Zeugnis von seiner Geschichte ab. Und so ist dieses Buch ein wahrhaft bewegendes Zeugnis und Zweitzeugnis. Scheinbar harmlos und voller Hoffnung beginnend, dass es „Ja für Österreich!“ heißt 1938, verändert sich die Situation für jüdische Familien drastisch von Tag zu Tag. Der beliebige und unberechenbare Terror und die Haltung ehemaliger „arischer Freunde“, die zu Verrätern werden, verunmöglicht mehr und mehr jüdischen Familien, an ihren Wohnorten leben zu können. Schließlich werden in der Familie Kleinmann, der man sich am Ende des Buches wie einer befreundeten Familie nahe sieht, realistische Entscheidungen getroffen. Edith, der ältesten Tochter, gelingt die Flucht nach England. Der jüngste Sohn, Kurt schafft es nach vielen Bemühungen seiner Mutter, die Freundinnen in den USA hat, nach Bedford, nordöstlich von New York. Der älteste Sohn Fritz geht freiwillig seinem Vater hinterher, zunächst nach Buchenwald, dann nach Auschwitz (Monowitz), zuletzt beide alleine in Bergen-Belsen und Mauthausen. Die Mutter Tini und ihre Tochter Herta, werden im „Ostland“ ermordet. Viele historische Figuren werden genannt – anders als in der Erwachsenen-Ausgabe, verständlicherweise, ohne nähere Informationen. Sowohl die Täter, wie SS-Untersturmführer Grabner in Auschwitz als auch Mithäftlinge, wie Josef Kohl im Widerstand in Mauthausen oder Stefan Heymann, der in Buchenwald den jungen Häftlingen „Geschichten von einer besseren Welt“ (169) erzählte.
„Fritz sah schreckliche Dinge.“ (146) heißt es einmal im Buch. Dronfield weist in seinen abschließenden Anmerkungen darauf hin, er habe den Holocaust weder bagatellisieren noch verharmlosen wollen, doch „einige besonders verstörende und grauenvolle Szenen“ (425) ausgelassen oder nur angerissen.
Es ist eine wirklich bewegende und berührende Geschichte – lesbar ab 10-12 Jahre bis zu Erwachsenen -, die in dem „was danach geschah“ (391 – 400) den Schmerz und die Trauer, die die Überlebenden hatten, fast körperlich spüren lässt. Eine Geschichte, die deutlich macht, „dass wir uns daran erinnern (müssen), was in diesen Jahren geschehen ist.“ (398)
Papa Gustav Kleinmann ist es, den nie die Hoffnung verlässt und dies seinen Sohn spüren lässt. Wer Hoffnung hat, kann überleben und dann leben. „Wir sind stark. Uns werden sie nicht zermalmen.“ (153) Eine Hoffnung, von der viele Überlebende der KZ in ihrer Weise erzählen.
David Ziggy Greene hat dieses Buch mit 69 Kapitel einleitenden und weiteren Zeichnungen ansprechend für Kinder illustriert.
In den abschließenden Anmerkungen findet sich auch der Link auf kostenloses Begleitmaterial für Lehrer:innen und Erzieher:innen, allerdings in Englisch: http://jeremydronfield.com/auschwitz-guide.html.
In den Arolsen Archives finden sich einige Dokumente zu Fritz Kleinmann, z.B.:
https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/1535604?s=fritz%20kleinmann&t=2211053&p=0.
Zeugen der Zeitzeugen e.V. (Hg.), Das Erbe der Zeitzeugen. Bildung für die Nachwelt, Leipzig: Hentrich&Hentrich 2023, 144 S.
In den vergangenen Jahren gab es verschiedene Veranstaltungen, die sich mit dem Sterben der Zeitzeug:innen der Jahre 1933-1945 beschäftigten.
Der profilierte Verlag Hentrich&Hentrich hat bezüglich der daraus resultierenden Fragestellungen eine wertvolle Arbeitshilfe herausgegeben, welche „vielfältige und praxisnahe Anregungen“ (Prof. Dr. Horst Köhler, Bundespräsident a.D.) (S.11) gibt.
Ein umfangreicher Teil mit Essaybeiträgen umfasst 80 Seiten, ein stärker praxisorientierter Teil „Themenimpulse“ umfasst 35 Seiten, Ein vierseitiges Glossar mit Begriffen von „Aliya“ bis „Zweite Generation“ rundet den Band ab. Ob aber das Ziel der Herausgeber, „auch in kurzer Zeit fundiert ansprechende Unterrichts- und Workshopeinheiten planen und umsetzen zu können“ mit dem Buch umsetzbar ist, wage ich zu bezweifeln, was das „in kurzer Zeit fundiert“ betrifft. Dazu braucht es eben die nach jedem Text zu findenden wunderbaren Literatur-, Quellen- und vor allem auch Webseitenempfehlungen.
In der Tat haben die vielen jeweils in den Texten verstreuten blau hinterlegten Anstöße und Fragen – auch „Anregung für Lehrkräfte“ - zum Weiterarbeiten einen wertvollen, auch direkt umsetzbaren praktischen Bezug (allerdings sind diese nicht in jedem Essay oder Text zu finden). Sehr persönliche Geschichten (wie auch die zu unserer Zeitzeugin Eva Szepesi, mit Zweit- und Drittgeneration) verweisen auf die notwendige Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte. Sie sind, so Daniel Müller, in Israel mit Projekten und Aufsätzen Standard (S.20). So wird hieran auch der Übergang von dem direkten Zeitzeugnis eines Pavel Hofmann (S. 56ff.) oder der Zweitzeugenschaft (S. 64ff.) oder eben Eva Szepesi (S. 70ff.) hin zu den Stimmen der zweiten (Anita Schwarz, S. 75ff.) und dritten (Celina und Leroy Schwarz S. 79ff.) Generation deutlich.
Sehr eindrücklich wird über die Entstehung des Antisemitismus in seinen heutigen Formen geschrieben. Gerade an diesen Texten wird die leider höchste Aktualität der Inhalte deutlich. Zwei wichtige Stimmen aus Israel – von Dr. Ni Borns wiss. Mitarbeiter in Tel Aviv und den Erzieher:innen Inval Raz und Kabi Dana in englischer Sprache – umreißen die 2020 unterzeichnete Abraham Accords Declaration und die Entstehung des Staates Israel „vom Traum zur Wirklichkeit“. Ein sehr detaillierter Essay über den jüdischen Kalender und biblische Feste (S. 87ff.) verweist in seinen vielen blau hinterlegten Anregungen und Aufgaben schon auf die folgenden Themenimpulse. Diese drehen sich zunächst um jüdische Persönlichkeiten und jüdische Geschichte vor Ort. Und nehmen dann den heutigen Staat Israel in den Blick. Die letzten drei Themenimpulse stellen zunächst die Frage, ob mit dem Genozid an den Armeniern ein Paradigma für die Schoah vorhanden war, ehe mit einem Best Practice zu religiösem Antisemitismus und einem Impuls zum Juden Jesus von Nazareth der reichhaltige Band abschließt.
Ich meine, dieser Band ist ein Muss für alle Menschen, die sich mit Zeit- und Zweit- und Drittzeugenschaft beschäftigen.
Neal Shusterman, Fenster in der Nacht. Geschichten der Hoffnung - Graphic Novel über die Zuversicht im Holocaust, durchgehend farb. Illustr. V. Andrés Vera Martínez, übers. v. Alexandra Ernst, Bindlach: Loewe Verlag GmbH 2024, 256 S.
Einige Rezensionen zu diesem Buch bemerken zu Recht, dass es einzigartig ist, wie darin über die Shoah erzählt wird. Neal Shusterman wendet sich der Hoffnung zu, um – wie er schreibt – „Licht in die dunklen Ecken“ (S. 250) zu bringen, der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft, was besonders in der letzten von fünf Geschichten – „Das Unsägliche“ – zum Ausdruck kommt; und ebenso sehr zum Eindruck, den der Illustrator Andrés Vera Martínez in sagenhaften kongenialen Bildern vermittelt.
Es sind „sagenhafte“ Geschichten und doch realistische Geschichten, die wie auf einer Messerklinge „zwischen zwei Realitäten“ sich entwickeln. „Wir können nicht wählen zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Aber was, wenn doch?“ (S.228) So sagt es Caitlin, die Protagonistin der fünften Geschichte. Ein wenig werde ich dabei an eine Geschichte aus Martin Bubers Erzählungen der Chassidim erinnert, wo ein bekannter Rabbi nach Gott gefragt wird: „Vielleicht ist es doch wahr!“ Und „wahr“ ist auch der historische Hintergrund der Geschichten (, der auf den letzten Seiten jeder Geschichte dargestellt wird) : Menschen verstecken in Lebensgefahr jüdische Kinder und Familien und werden zu „Gerechten unter den Völkern“, Auschwitz, der Golem und bewaffnete Aufstände in Konzentrationslagern, bewaffnete jüdische Widerstandsgruppen, die Rettungsaktion von über 7.000 dänischen Juden.
Es ist ein Mut machendes Buch in einer Mut erfordernden Zeit wie unserer, wie in jeder. Es ist ein inspirierendes Buch in den wahren Geschichten von Menschen. Es ist ein Buch, das in seinen Fragen (z.B. S.242) für Unterricht Stoff bietet, bzw. den Einstieg in dieses Buch.
So bleiben auch viele Sätze aus diesem Buch hängen: „Denn die Zeit rechnet mit allen Dingen ab.“ (S.105) „Juden zu retten ist wichtiger, als Deutsche zu töten. (Tovia Bielski)“ (S. 161) „Wir fanden es völlig normal, Menschen zu helfen, die in tödlicher Gefahr waren.“ (S. 203)
Der Verlag empfiehlt das Buch ab 12 Jahren. Ich würde das Buch bei einer gemeinschaftlichen Lektüre schon ab 10 Jahren einsetzen.
Lutz van Dijk . Francis Kaiser, Damals hieß ich Rita. Die Geschichte von Rozette Kats, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2024, 38 S.
Eine eigene Erfahrung ist es, wenn von den letzten vier Rezensionsexemplaren drei für Kinder und Jugendliche dabei sind, wo ich zuvor die Frage gestellt hatte, ob das möglich sei oder nur Bücher für Erwachsene. Dieses dritte Buch nun ist ausdrücklich für Grundschulkinder „ab 8 Jahren“ geschrieben worden. Weil Kinder Fragen stellten und ehrliche Antworten wollten. So schreibt es Lutz van Dijk, deutsch-niederländischer Historiker und Pädagoge im Vorwort. Er hat sich dezidiert in vielen seiner Bücher mit den Jahren 1933-1945 beschäftigt, der jüdischen Geschichte sowie mit Randgruppen und Grenzgeschichten.
Und schon vorweg sei gesagt: der Wert dieses Buches liegt vor allem in der Botschaft „dass es möglich ist, in dieser Welt trotz aller Schrecken und Unterschiede einander zu vertrauen und respektvoll zu begegnen.“ Damit umschreibt Lutz van Dijk treffend auch die Ausrichtung und Hoffnung des Projekts „Zeitzeugen“.
Doch ist hier einem Trio zu danken für dieses wundervolle Buch. Neben van Dijk dem Illustrator Francis Kaiser und Rozette Kats, die damals eben Rita hieß. Die Idee, Rozette Kats im Gespräch mit Kindern ihre Geschichte erzählen zu lassen, doch vorher diese Kinder in ihrer Welt abzuholen, ist grandios. Und dass diese Kinder in ihrer Herkunft und Religion gewissermaßen den Erdball repräsentieren, weist auf die Universalität der Botschaft hin, die sich aus dem Grauen der Jahre 1933-1945 und der Erfahrung von Rozette Kats ergibt. Die Niederlande ist Schauplatz der Geschichte, Konzentrationslager gibt es, „eine Art Gefängnis“ (S. 15). Doch der große Schock für Rozette kommt 1948, als Henk, ihr Papa, erzählt „… wir sind nicht deine Eltern. Und du heißt nicht Rita.“ (S.23) Sie ist Jüdin, ihre jüdischen Eltern gaben sie im Alter von 8 Monaten aus ihren Händen. Die Reaktionen der Kinder auf diese traurige Geschichte sind so vielfältig wie Kinder sind und Mut machend. Rozette erzählt weiter von ihrem Ringen, zu sagen, wer sie wirklich ist, von ihren Ängsten und von den „Gerechten unter den Völkern“. Und dann taucht auf der vorletzten Seite des Buchs ein Foto auf, das Rozette von einem Bruder ihrer „echten Mutter Henny“ erhält: das zeigt sie und ihren Mann Emiel mit der Tochter Rozette auf dem Arm. Man meint, in diesen drei Gesichtern die ganzen Ausmaße und Wirkungen der Shoah zu erkennen.
Hauke Goos, Annette Goos, Warum hängt daran dein Herz? Wie Erinnerungsstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen Ein SPIEGEL-Buch, München: DVA 2024, 384 S.
Ich stelle mir eine Ausstellung mit diesen 36 Erinnerungsstücken vor. Was wird Menschen ansprechen oder was erinnern, wenn sie ein paar Handschuhe sehen, einen alten Teddy, eine bunte Blechdose oder eine Kaffeemühle? Denn unweigerlich kommen eigene Erinnerungen, wenn man eintaucht in die erzählten Erinnerungsstücke. Sie erzählen, wie Menschen anhand dieser Erinnerungsstücke ihr Leben meistern konnten. Auch wenn der Titel vom Verstehen „unserer Eltern“ spricht (aus der Perspektive der Eltern der Boomer-Generation, aber auch der Boomer-Generation selbst ) so bleibt doch oft auch eine Leerstelle. Und vielleicht ist es eher ein Verstehen des eigenen Lebens, das sich an den überlieferten Erinnerungsstücken entfaltet.
Sabine Bode hat sehr aus- und eindrücklich über Kriegskinder und Kriegsenkel geschrieben und über die Weitergabe von Traumata, wie wir sie in der zweiten und dritten Generation der Shoah-Überlebenden kennen. Neben der u.a. im Buch erwähnten Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand mit ihrem Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“.
In Goos Buch kommen Schmerz, Gewalt, Sprachlosigkeit, aber auch Liebe, Zuneigung und Überlebenswille zu Wort. Und das Wagnis, Schreckensbilder zuzulassen, damit gerade der „Strom des Schmerzes“ in sichere Bahnen kommen kann (vgl. S.9); und in der Beschäftigung mit der Vergangenheit man sich selbst besser verstehen kann.
Es sind prominente Geschichten dabei, wie von Hanna Schygulla, Paul Maar, Gerhart Baum oder Rita Süssmuth. Die Kriterien der Auswahl der 36 erinnernden Menschen und der Gespräche mit ihnen wären m.E. im Vorwort noch erwähnenswert gewesen. Denn es sind sehr persönliche Zugänge, auch über die vielen familiären Schwarz-weiß-Fotos. Passend ist als Nachwort ein knapp 20seitiges Interview mit der erwähnten Therapeutin Meyer-Legrand angehängt.
Ich stelle mir vor, welche Erinnerungsstücke in meine Ausstellung hineingehören, und frage mich, warum daran mein Herz hängt.
Elisabeth Naomi Reuter, Judith und Lisa – Best Friends. Zweisprachige Neuausgabe. 22 Abbildungen, Leipzig: Hentrich&Hentrich 2024, 48 S.
Die Frage nach der Bedeutung von Kinderbüchern zur Shoah und zur NS-Zeit wurde schon an zwei hier rezensierten Büchern gestellt. „Judith und Lisa“ ist demgegenüber mehrfach anders als die beiden. Es ist eine Neuausgabe der 1988 erschienenen Erstausgabe in Kombination mit der 1993 erschienenen englischen Erstausgabe. Knapp die Hälfte des Buches nimmt nun „die Geschichte des Buches“, ein Pressebericht, ein Interview mit und eine Vita der Autorin, Probeillustrationen sowie der Hinweis auf ein Didaktisches Konzept ein.
Nach seinem erstmaligen Erscheinen war dieses Buch vielfach Anfeindungen ausgesetzt, neben ebensolchem Zuspruch.
Hilfreich ist ein vom Verlag bereit gestelltes didaktisches Konzept als PDF für die Klassen 2 – 7 mit einem Rollenspiel, das die Situation deutscher Juden im Jahr 1936 gut veranschaulicht. Die Autorin hat dies bis in die 2000er Jahre hinein entwickelt und es war ihr sehr wichtig, auch zum Verständnis und der persönlichen Betroffenheit der Kinder. Es wurden daran behutsam Änderungen vorgenommen.
Ich meine, dass dieses Buch vor allem diesen pädagogischen Hintergrund, der in dem didaktischen Konzept zum Tragen kommt, stark machen will; damit „sich die Geschichte nicht noch einmal wiederholen kann.“ (die Autorin auf S.33)
Ich muss zugeben, dass das Buch nicht im ersten Eindruck beeindruckt. Die Zeichnungen scheinen angelehnt an die 1940er Jahre und einem realistischen Stil gemalt. Vielleicht ist das auch 1980er-Jahre-Stil, da wissen Kinderbuch-Expert:innen sicher besser Bescheid. Ich frage mich auch, ob die bilinguale Ausgabe geschickt ist oder eher ablenkt?
Wichtig ist jedoch, dass es ein gemeinsam zu lesendes Buch ist. Die offen bleibenden Fragen um das Schicksal von Judith bedürfen des Gesprächs.
Hédi Fried, Die Geschichte von Bodri, mit Bildern von Stina Wirsén ; aus dem Schwedischen von Christina Tüschen ; mit einem Nachwort von Dr. Margret Karsch, Münster: Bohem Press 2022, geb., 40 S.
Wenige Wochen vor ihrem Tod am 19. November 2022 erschien die 2019 in Schweden veröffentlichte Geschichte von dem Hund Bodri in Deutschland. Hédi Fried, deren Buch „Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden“ hier schon rezensiert wurde, erzählt darin aus der Perspektive eines Kindes eine „Zeit, in der seine Welt heil war – und davon, wie sie zerbrach“ (Nachw. M Karsch, S 34). Es ist ihre Geschichte und sie erzählt sie als eine universale Geschichte für alle Kinder, denn zum Zeitpunkt ihrer Deportation war Hédi Fried 19 Jahre alt. Das einleitende Foto (vermutlich um 1935) zeigt Hédi mit ihrer Schwester Livia (die wie im Buch überlebt) und ihren Eltern, die in Auschwitz-Birkenau ermordet werden. Es ist eine unglaubliche Idee, eine Geschichte des Holocaust mit dem Verständnis und Vertrauen eines Hundes zu erzählen. Doch es ist dieser Bodri, der in all dem Grauen, das Hédi mit ihrer Schwester erlebt, für diese die Wacht hält und bleibt unter dem Baum in den Farben der Jahreszeiten. Und es ist Bodri, der seinen Ohren nicht traut: „Das war wirklich sie! Das war ich!... Da erzählte ich ihm, dass der Krieg zu Ende war.“ Auch wenn Bodri auf dem letzten Bild keinen Platz hat, so spricht auch er den letzten Satz mit den beiden Mädchen mit: „Wir sind hier und wir erzählen jedem davon, was passiert ist. Damit es nie wieder passieren kann.“
Ich meine, dass Hédi Fried mit Sicherheit gewusst hat, wie wichtig diese Hoffnung und diese Überzeugung für alle, die sich in der Zeitzeugenarbeit engagieren, ist.
Wundern wird man sich vielleicht, dass Hitler zweimal als Bild erscheint. Doch ist es zum einen kindgemäß, zum zweiten ist es ein schwedisches Kinderbuch und drittens kam mir dabei der Titel einer Dokumentation von Menschen mit Beeinträchtigung in der Gedenkstätte Hadamar: "War der Hitler ein Drecksack!" (Lion Feuchtwangers Neffe meinte "Hitler war eine lächerliche Figur.")
Empfohlen wird das Buch vom Verlag ab 8 Jahren. Dr. Margret Karsch gibt im Nachwort wertvolle Anregungen zum Umgang mit dem Buch. Grandios sind die Bilder von Stina Wirsèn, die auch ohne den Text erzählen. Vielfältiges pädagogisches Material zum Buch (vorerst allerdings leider nur auf Schwedisch) findet sich auf der Website https://www.barbara.nu/lararmaterial-bodri/
Minka Pradelski, Es wird wieder Tag (Roman), Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt 2020 (2. Aufl.), 383 S.
Ein Roman, der sich nach und nach entfaltet, das Geheimnis seiner Geschichte nach und nach aufdeckt. Der Neugeborene Bärel „sieht aus, als habe er die Welt schon einmal gesehen.“ (17) Die „Nummerierung des kleinen Bromberger“ (23) lässt aufhorchen, bis es wenig später heißt: „ein kleiner Jude. – Ich dachte, die seien alle tot. – Nein, einige leben noch.“ Der schon einmal die Welt gesehene Bärel, kennt „Lager, Peitsche, Furunkel, Befreiung…“ (41) Dann die Katastrophe, an der Bärels Mutter Klara fast sterben wird, wie es gegen Ende des Buches ihr Mann, der Vater Leon Bromberger, aus seiner Perspektive (354ff.) erzählen wird. Sie trifft „die Teufelin“, „Liliput“ (48), die Mörderin in Auschwitz
In 6 Kapiteln entfaltet Minka Pradelski eine von der Shoah gezeichnete Familiengeschichte, wie es sie leider zu viele gab: die Eltern von Klara und Leon werden ermordet, Geschwister mit ihren Familien, und die Traumata finden in die Jetztzeit. Nachdem Mechthild Töffler alias „Liliput“ diese Traumata in Klara aufreißt wie eine tödliche Wunde findet Leon irgendwann die Idee: „Schreibe, Klara, schreibe. Bann das Böse auf das Papier. (…)“ (60)
Es sind nicht nur Sätze wie diese, die einen beim Lesen atemlos zurücklassen.
Sehr klar zeichnet Pradelski auch den Antisemitismus in Polen während und nach der Shoah nach, wie Menschen am Aufspüren von Verstecken jüdischer Familien finanziell profitierten.
6 Kapitel, die in ihrer Länge sehr unterschiedlich sind und auch den Fokus deutlich machen. Als „Spion in der Wiege“ wird Bärel im ersten Kapitel die Welt nicht nur seiner Eltern, vor allem seiner Mutter betrachten. Das zweite Kapitel zu Klara umfasst annähernd 200 Seiten, erzählt von den Eltern und ihrer musikalischen Freundin Martha in Auschwitz, die auch überleben wird. Bärel als „Krabeitzki“ will nur, dass es seiner Mutter gut geht, trotz der „gedächtnislosen“ Deutschen (Kap. 3). „Keiner will es gewesen sein.“ (264) Klara entdeckt in ihrem Kapitel 4 das Unerwartete, dass ihr Mann sie liebt. Er, Bromberger, kommt erst dann, in Kapitel 5 zu Wort. Auf knapp 70 Seiten entfaltet sich eine dynamische, getriebene Lebensgeschichte, die Geheimnisse nicht preisgibt. Im letzten Kapitel besiegeln vier Worte die Zukunft der Familie Bromberger: „Wir bleiben in Deutschland.“
Und wer diese Entscheidung verstehen will, muss einfach dieses Buch lesen.
Minka Pradelski – als Tochter Überlebender im DP-Camp Zeilsheim geboren – findet in Bärel ihren Herzensbruder. Sie macht mit ihrem Roman, mit ihrer Lebensgeschichte die Bedeutung der Zweitzeug:innen nachdrücklich deutlich, und damit Hoffnung: „Es wird wieder Tag.“
Helen Bate, Peter in Gefahr. Mut und Hoffnung im Zweiten Weltkrieg, Aus dem Englischen von Mirjam Pressler, Frankfurt. Moritz 2021 (2. Auflage), 48 S.
Ich kenne einen Peter, der als jüdisches Kind ebenfalls im Budapester Ghetto überlebte. Daher hat mich der Buchtitel sofort angesprochen. Und ich kenne die Familiengeschichte der Rosenbaums, die auch in Teilen in Budapest spielt. Und von Rodika Rosenbaum hörte ich erstmals von der Trauerweide aus Stahl, die im Hof der Großen Synagoge in Budapest steht, an der jedes Blatt den Namen eines von den Nationalsozialisten ermordeten ungarischen Manschens trägt. Auf Seite 43 ist ein Foto dieser Skulptur zu sehen.
Die wahre Geschichte von Peter, der heute in Österreich lebt, ist am Ende mit Originalfamilienfotos der Jahre 1938-1941 und von 2015 ergänzt. Wahrscheinlich verweisen sie auf S. 11, wo Peters Vater eine Kiste mit Fotos und wichtigen Papieren vergräbt (die er auf S. 35 wiederfindet). Ein kindgerecht gezeichneter Stadtplan von Budapest kennzeichnet sechs wichtige Orte für Peter und seine Familie.
Es ist eine Geschichte, die gut ausgeht. Flucht, Verstecken, Zauberwelten im Schrecken. Und im Winter 1946 wird Peters kleiner Bruder Andreas geboren.
Aber irgendwie bleibt die Erzählung blass. Vielleicht liegt es an dem Layout der kleinen Bilder, den vielleicht zu hölzern gezeichneten Figuren. Die Erzählung packte mich nicht, die Geschichte von Peter schon. Der Verlag gibt als Altersempfehlung 7-9 Jahre an, das sehe ich ähnlich.
Rose Lagercrantz & Rebecka Lagercrantz, Zwei von jedem, Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch, Frankfurt. Moritz 2021, 120 S.
Was ist zu einem Buch zu schreiben, das herausragende Pressestimmen zum Hören bringt mit Beschreibungen wie „kraftvoll“, „kindgerecht“, „berührend“, „eindringlich“?
Vielleicht ist es schon der erste Satz des Buches, der einen hinein zieht in die Fragen, welcher Mensch bin ich (geworden) und welcher Mensch will ich sein. Das fängt schon damit an, dass Eli und seine Freundin Luli die vom alten Isaak geschenkten Bonbons mit Bruder und Schwester teilen. (23). „Warum immer zwei von jedem?“ – „Damit niemand allein ist, sagte Mama.“ (32) Am zum Sabbat gebackenen zweifachen Challe-Brot wird die Wahrheit über das Leben ausgesprochen.
Und dann wird alles anders. Luli fährt zu ihrem Vater in die USA, ein großer Krieg in Europa tobt, der ins Dorf kommt. Eli wird später klar, „wie die Menschen dachten, die jetzt an der Macht waren“ (72): „Wir sollten nicht länger leben.“ Die Viehwaggons halten in Auschwitz. „Was dann kam, kann ich eigentlich nicht erzählen. Ich versuche es trotzdem.“ Zwei großartige Sätze, die über jeder Zeitzeugenbegegnung stehen. Adam, der große Bruder, und Eli werden in Bergen-Belsen befreit. Luli schreibt aus den USA, Eli heiratet sie. Die Erinnerungen an die furchtbaren Jahre kommen hoch. Golda, die älteste Tochter, muss in der Schule eine Arbeit über den Krieg schreiben. Eli „will den Kindern nicht solch schreckliche Sachen erzählen“. „Kinder verstehen es. Und Kinder wollen es wissen!“ – „Ich verstehe es ja selber nicht.“ (103)
Was gibt es noch viel zu schreiben? Das ist die Wahrheit, was Rose Lagercrantz auf dem Hintergrund ihrer eigenen Familiengeschichte, erzählt. Es ist Liebe, die vielleicht, vielleicht „das Entsetzliche ausgleichen“ (115) kann.
Dieses Buch ist ein Muss für jedes Kind in Deutschland ab 8, bzw. 9 (wie der Verlag empfiehlt) Jahren.
Manfred Deselaers, Die Wunde von Auschwitz berühren, Herder-Verlag, Freiburg 2024, 240 S.
Manchmal hilft es, den Menschen zu kennen, der hinter einem Buch steht. Manfred Deselaers lernte ich bei meinem ersten Besuch in Oświęcim 2014 kennen, im Zentrum für Dialog und Versöhnung, wo er damals schon fast 20 Jahre lebte und arbeitete. Zuletzt trafen wir uns im September 2024 in Frankfurt. Pater Manfred, wie er in Polen genannt wird, ist in der aktuellen Ausstellung des Hilfswerks Renovabis einer von 20 Friedensmenschen. Seinen Dienst dabei hat er u.a. bei der Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt im Gespräch mit 5 Jugendlichen, mit deutschen, jüdischen und polnischen Wurzeln erklärt. Er gibt keine „einfachen Antworten“, auch nicht in dem Buch. Der polnische Journalist Piotr Żyłka hat Anfang 2020 die Idee zu diesem Buch Pater Manfred vorgeschlagen. 2022 ist das Buch in Polen erschienen, der Herder-Verlag hat es dankenswerterweise in Deutsch herausgegeben. Wichtig ist das Buch auch vor dem Hintergrund der notwendigen deutsch-polnischen Annäherung und Aussöhnung, angesichts der furchtbaren Jahre 1939-1945. „Ich arbeite daran, Brücken zu bauen, ich möchte, dass die Deutschen die Polen und Juden besser verstehen und umgekehrt.“ (272) Auf sehr persönliche Weise nähert sich Żyłka zunächst dem nicht immer geraden Lebensweg von Deselaers. Entscheidend ist dann die Beschäftigung mit dem Lagerleiter von Auschwitz, Höß. Prof. Adam Kubiś schlug Deselaers vor, die Lebensgeschichte von Höß aus theologischer und geistiger Sicht zu verstehen. „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ ist in Deutschland schon länger nur antiquarisch zu erwerben, war zwischenzeitlich 2014 im Verlag des Auschwitz-Birkenau State Museum neu aufgelegt worden, aber 2024 nicht mehr auf Lager. Im Gespräch mit Piotr Żyłka nimmt Rudolf Höß ein eigenes Kapitel ein. Deselaers meint, dass Höß seine Schuld am Ende bekannt hat (140) und setzt dies auch in Beziehung zu Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden, die er in Auschwitz traf. In seiner Zeit in Oświęcim wird Pater Manfred von der Hoffnung getragen, „dass das letzte Wort nicht der Macht des Bösen, des Egoismus, der Verachtung und Vernichtung gehört, sondern der Macht der Menschlichkeit, der Liebe.“ (9)
Leon Weintraub, die Versöhnung mit dem Bösen, Göttingen: Wallstein 2024 (2.Auflage)
Wer Dr. Leon Weintraub kennengelernt hat, weiß, dass der Titel dieses Buches nur stimmen kann. Ein 98jähriger, der mit feiner, klarer und freundlicher Stimme optimistisch auf Welt und Leben blickt. Als Arzt weiß er, dass das Hautgewebe alle Menschen stets identisch ist und das heutige Wissen über die DNA beweist, dass es nur eine einzige menschliche Rasse – den homo sapiens – gibt. (9) Das zu sagen, ist ihm bei Zeitzeugenbegegnungen eine Kernbotschaft. Das in 2024 in zweiter Auflage und zeitgleich auch in Englisch („Reconciliation with Evil“) erschienene Buch (2021 polnisch veröffentlicht - „Pojednanie ze złem“), das erstmals in dieser Form seine „Geschichte eines Weiterlebens“ erzählt, entstand in Gesprächen mit der Journalistin Magda Jaros. Sie ist wie bei vielen Holocaust-Überlebenden eine Geschichte voll Mut, Glück, Aufopferung, Schmerz, unvorstellbarem Leid und Verlust, und der Hoffnung auf Leben. Der Gesprächscharakter als Ausgangspunkt wird in dem Buch durch Fragen der Journalistin und den persönlichen Antworten von Leon Weintraub durchgehalten. So wird auch deutlich, dass jede Zeitzeugenbegegnung ein Gespräch sein kann. Kurze, einfühlsam geschriebene Einführungen in die jeweiligen Kapitel leiten die folgenden Interviewfragen ein. Wenige persönliche Fotos und Repliken von Dokumenten ergänzen das Buch. Am wichtigsten das Foto auf S. 61, das Leon in der Elektrowerkstatt des Ghettos Łódź zeigt. Ermutigend – nicht nur für alle in der Zeitzeugenarbeit Engagierten – ist sein Schlusssatz. „Ich glaube fest daran, dass eine positive Einstellung und Herangehensweise viel Gutes bewirken können.“ (277)
Marion Tauschwitz, Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben. Biografie und Gedichte, Springe: zu Klampen 2023, 358 S.
Am 5. Februar 2024 wäre Selma Merbaum 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Tag ist die Neuausgabe der erstmals 2014 erschienenen Biografie von Selma Merbaum, ergänzt durch Gedichte und durch bislang unbekannte Erinnerungen an die jüdische Lyrikerin, von Marion Tauschwitz herausgegeben worden. Wenn der ukrainische Historiker und Holocaust-Überlebende Dr. Boris Zabarko vom vergessenen Holocaust der Ukraine spricht, dann ist auch diese Biografie zu Selma Merbaum ein wichtiges Zeugnis, um den 1,5 Millionen ermordeter und umgekommener Jüd:innen der Ukraine eine Stimme zu geben und deren Erinnerung zu bewahren. Iris Berben schreibt im Vorwort des Buches von Merbaums Worten zu einer „Realität, die Trauer, Angst und Schrecken hervorrief.“ (11) Angesichts erbarmungsloser Menschenverachtung und Gewalt Worte zu finden, die „Werte wie Respekt und Wertschätzung für Natur und Mensch“ vermitteln (13) war für den Holocaust-Überlebenden Yosef Eshet, der mit Selma Merbaum die jämmerliche Baracke im Zwangsarbeiterlager Mychailiwka geteilt hat, eine der größten Erinnerungen an „eine reife, verantwortungsbewusste junge Frau“ (14). Vier Jahre nach ihrem Cousin Paul Celan wird auch sie in Czernowitz geboren, an einem klirrend kalten Wintertag (17), als „bukowinische Anne Frank“. Immer wieder verknüpft Marion Tauschwitz biografische Erfahrungen mit Gedichten von Selma Merbaum und Bezügen zu Rose Ausländer, die mit ihr zum „Dreigestirn der Bukowina“ zählt. Fotos, Dokumente und Zeichnungen illustrieren in sieben Kapiteln mit einem Epilog endend Merbaums Biografie. Von dem Maler Arnold Daghani, der mit Selma Merbaum in Mychailiwka war, stammt auch die Zeichnung zu den letzten Zeilen in Kapitel 7: „Am Abend verstummte Selma. Für immer.“ (226) Daghani hielt einiges in seinen Lagerzeichnungen fest. Nach Selmas Tod hielt er jenen Augenblick fest, in dem Selmas Leichnam von oben aus einem Stockwerkbett auf einer Leiter heruntergehoben wurde. Er selbst schreibt zu seinem Bild: „Es erinnert mich an die ‚Kreuzabnahme’. Hier also begegnen wir Geburt und Tod Christi. Aber das übersteigt unsere Phantasie.“ (Quelle: https://www.hiddenmuseum.net/selmas_blau.html, Zugriff 13.11.2024)
Ich möchte leben. / Ich möchte lachen und Lasten heben/ und möchte kämpfen und lieben und hassen/ und möchte den Himmel mit Händen fassen/ und möchte frei sein und atmen und schrein./ Ich will nicht sterben. Nein!/ Nein./ Das Leben ist rot,/ Das Leben ist mein./ Mein und dein./ Mein. (Selma Merbaum)
Es gibt eine wunderbare Website (nicht nur) zur pädagogischen Arbeit mit Selma Merbaum:
Rachel Jedinak, Wir waren nur Kinder. Ein Leben, um es zu leben, ein Leben, um sich zu erinnern, Frankfurt: Frankfurter Verlagstanstalt: 2024, 94 S.
„Kinder leben in ihrer eigenen Welt. Sie erstreckt sich über Räume, die lange Zeit so weitläufig erscheinen wie ganze Städte.“ (15) Bereits 2018 erschien in Frankreich die Erzählung von Rachel Jedinak, der es -mit Hilfe ihrer Mutter -mit ihrer Schwester gelingt, im Juli 1942 in Paris einer Deportation in die Vernichtungslager zu entkommen. Dankbar darf man der Frankfurter Verlagsanstalt sein, „Nous étions seulement des enfants“ für deutsche Leser zugänglich zu machen. Es ist ein Denkmal - nicht nur - für die verschwundenen – ermordeten – Kinder im Sommer 1942. Im Juli 2011 holt sie die eigene Erinnerung dazu ein, und sie findet ein kleines Mädchen, das sie mitnimmt in das Jahr 1939. Die Mobilmachung steht bevor – „Mo-bi-li-sa-tion Gé-né-rale!“ (18) Wie kann man das Unsagbare aushalten? (21) Wie Rachel Jedinak beschreibt, als sie den Judenstern tragen muss. „Von diesem Tag ist mir ein furchtbares Gefühl der Scham geblieben.“ (etwas, das viele Shoah-Überlebende erzählen) „Sie trugen ebenfalls den gelben Stern. Und so wie für uns schien er auch für sie Tonnen zu wiegen.“ (48) Sehr lange Zeit hat Rachel Jedinak nicht erzählt (57) Nun geht sie als Zeitzeugin in Schulen, dort ist sie überrascht, wie wenig die Schüler:innen von den Jahren 1939-1945 wissen. (74) Und sie beschreibt sehr fein und klar, wie sie als Zeitzeugin empfindet. Und ich möchte allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in unserem Projekt dabei sind, ermutigen mit Rachel Jedinaks abschließenden Worten, nachdem sich ein Junge für ihr Zeugnis bedankt: „Da wusste ich, dass ich es geschafft hatte, in ihm einen Samen zu säen, der vielleicht eines Tages Früchte trägt.“ (87)
Andrea Löw, Deportiert „Immer mit einem Fuß im Grab“ Erfahrungen deutscher Juden, S. Fischer: Frankfurt 2024, 364 S.
Kann man „eine kollektive Erzählung auf Basis Hunderter Zeugnisse“ schreiben, wie auf dem Deckblatt des Buches angekündigt? Die eigene Erfahrung mit Zeitzeug:innen sagt, dass jedes Schicksal, jedes Leben einzigartig ist. Andrea Löw schafft es jedoch, all diese in wahrscheinlich jahrelanger Arbeit (9 Monate alleine war sie im USHMM) zusammen getragenen Zeugnisse miteinander auf einzigartige Weise zu verknüpfen. Oskar Singers einleitendes Wort „Wird je ein Mensch der Nachwelt sagen können, wie wir hier gelebt haben und gestorben sind?“ (8) ist quasi ein Leitwort dieses Buches. Deutschsprachige Jüdinnen und Juden aus dem „Großdeutschen Reich“, die ab Herbst 1941 systematisch nach Polen, Riga oder Minsk deportiert wurden, stehen im Mittelpunkt. Und in allen Zeugnissen – Geschichten der Erwartungen, Erfahrungen, Interpretationen und Reaktionen - wird offenbar, wie diese Menschen von jetzt auf gleich alles zurück lassen mussten, was ihr bisheriges Leben geprägt hatte. Marianne Ziegler, Fanni und Jakob Liebschütz, Gretel und Hugo Klein, … . Eine enorme Fülle an Quellmaterial hat Andrea Löw „beackert“ und dabei auch die Wege von Überlebenden nachgezeichnet, wie z.B. Siegfried Ziering (1928-2000) aus Kassel als Kind deportiert (81), später in die USA emigriert (282). Dabei hat sie auch die Strukturen im Ghetto beschrieben, die Schwierigkeiten der Judenräte, all die Versuche, sein Leben trotz allem zu organisieren und zu verbessern (135). Eine Entdeckung waren die Hintergründe und Verbreitung des „Lied der Moorsoldaten“ (201). Zeichnungen Überlebender veranschaulichen das Geschriebene ebenso wie die Fotos, deren Hintergründe jeweils erklärt werden. Die tragischen Geschichten erschüttern jedes Mal, wenn von der Abholung der letzten Kinder unter 12 Jahren zur Ermordung geschrieben wird, und ein Vater sein Kind vorher vergiftet und daraufhin erschossen wird (236f.).
Fast etwas nüchtern gerät der letzte Satz, dieses Buch sei geschrieben worden „… in der Hoffnung, dass sich viele Nachgeborene für ihre Geschichte interessieren.“ (286)
Danke an Wallstein-Verlag, Verlag Gräfe und Unzer, Verlag Klett-Cotta, Metropol-Verlag, Gütersloher Verlagshaus, Pantheon Verlag, Dumont Verlag, Verlag Hentrich&Hentrich, Diogenes-Verlag, Brill Schöningh Verlag, Henrich Editionen, cbj-Verlag, Loewe Verlag, Peter Hammer Verlag, DVA-Verlag, Bohem Press, Frankfurter Verlagsanstalt, Verbrecher-Verlag, Moritz-Verlag, S.Fischer Verlag, Herder-Verlag, zu Klampen-Verlag für das Überlassen von Rezensionsexemplaren.