Von Montag, 29. November bis Freitag, 3. Dezember 2021
fand das zweite Online-Zeitzeugenprojekt im Bistum Limburg statt.
Diesmal war an zwei Tagen die gesamte Begegnung online, an zwei Tagen war eine Moderation vor Ort möglich und an einem Tag gab es sogar eine präsentische Zeitzeugenbegegnung.
Rund 350 Schüler*innen aus Schulen in Frankfurt, Lahnstein, Limburg und Oberursel waren dabei mit ihren Lehrer*innen der Fächer Geschichte und Religion.
Es waren sehr bewegende Begegnungen mit Michaela Vidlakova, Henriette Kretz und Helmut "Sonny" Sonneberg - und einer einer Vielzahl an differenzierten und guten Fragen durch die beteiligten Schüler*innen.
Montag, 29. November - Prag und Oberursel

Michaela Vidlakova aus Prag eröffnete am Montag, 29. November, via Zoom mit dem Geschichtskurs BG 11/I der Hochtaunusschule Oberursel und ihrem Lehrer Alexander Diehl die Zeitzeugenwoche.
Sie war schon beim Online-Zeitzeugenprojekt im Juni/Juli dabei.
Deutsch hat sie in Theresienstadt 1943/1944 gelernt, als sie fast ein Jahr im Krankentrakt lag. In unmittelbarer Nachbarschaft lag ein jüdischer Waisenjunge aus Berlin. Er lernte tschechisch und Michaela Vidlakova lernte Deutsch. Doch den erhofften „Bruder“ fand sie in ihm nicht. Er wurde später deportiert und vermutlich in der Shoah ermordet. Michaela Vidlakova veranschaulichte anhand ihrer eindrucksvollen Präsentation, wie und wohin viele Deportationen aus Theresienstadt gingen. Dank verschiedener Zufälle, kluger Entscheidungen und dem Zusammenhalt durch ihre Eltern konnten alle drei die Befreiung Theresienstadts durch die sowjetische Armee erfahren.
Viele Fragen der Schüler schlossen sich an, so dass fast zwei Stunden vergingen, ehe Michaela Vidlakova sich verabschiedete. Sie tat dies mit einem bewegenden Gedicht von Ilse Weber, welche zwei Jahre in Theresienstadt war und 1944 in Auschwitz ermordet wurde: „Emigrantenlied“ wiederholt die unmöglich scheinende Gewissheit „… denn alles wird gut, denn alles wird gut, die Welt wird wieder zum Garten…“.
Dienstag, 30. November - Antwerpen, Frankfurt und Limburg
Für Dienstag, 30. November hatten sich drei Schulen für die Begegnung mit Krystyna Budnicka aus Warschau vorbereitet. Durch technische Störungen konnte Krystyna Budnicka kurzfristig nicht teilnehmen. So konnte dank der kollegialen Hilfe von Stephanie Roth vom Zeitzeugenprojekt der Diözese Mainz am Montagabend ganz kurzfristig Henriette Kretz aus Antwerpen einspringen.
Henriette Kretz ist in gewissem Sinne die Initiatorin des Projekts „Zeitzeugen“ im Bistum Limburg. 2017 hatte sie zusammen mit dem Auschwitz-Überlebenden Ignacy Golik (der im Januar 2022 100 Jahre alt wird) an fünf Tagen Schulen im Bistum Limburg für Begegnungen besucht.
Wir haben uns sehr gefreut, dass Henriette an diesem Tag sich Zeit nahm für die Schüler*innen des Bildungswerks der Hessischen Wirtschaft in Limburg und des Adorno-Gymnasiums in Frankfurt.
Die Klassen des Musikgymnasiums Montabaur wollten eine Begegnung mit Krystyna Budnicka (welche nun für Januar 2022 geplant ist) und nahmen nicht teil.
Henriette Kretz merkt man ihre pädagogische Begabung in jeder Minute an. Sie vermag es, trotz der digitalen Distanz, Schüler*innen einzubinden, zu fragen und zu Antworten zu bewegen. Sie vermag es – ähnlich wie es auch Michaela Vidlakova kann, die sich beide kennen – in bedrückender Weise deutlich zu machen, dass rund 1,5 Millionen jüdischer Kinder, welche ihre Leben mit all ihren Begabungen noch vor sich hatten, ermordet wurden und sie nicht dazu gehörte. Auf die Frage eines Schülers aus Frankfurt, was ihr das im letzten Jahr von Bundespräsident Steinmeier verliehene Bundesverdienstkreuz bedeute, meinte sie, dass sie dieses stellvertretend für die vielen anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entgegen genommen habe, die sie persönlich kenne. Ihre Geschichte sei eine „traurige Geschichte“, wie sie anfangs bemerkte, die mit den Worten der sie im Sommer 1944 im Waisenhaus von Sombor aufnehmenden Ordensschwester Celina endeten: „Kind, du bist hier in Sicherheit.“ Welch ein Trost liegt in diesem Satz.
Mittwoch, 1. Dezember - Frankfurt
Über persönliche Kontakte zum Museum von Eintracht Frankfurt ergab sich im Oktober 2021 eine erste Begegnung mit Helmut „Sonny“ Sonneberg, der im Juni dieses Jahres 90 Jahre alt geworden war. Er sagte zu, bei einer Zeitzeugenbegegnung mit einer Frankfurter Schule vor Ort dabei zu sein. So hatte das Heinrich-von-Gagern-Gymnasium mit seinem engagierten Kollegium (wie bereits im Sommer-Online-Zeitzeugenprojekt mit der Fachschaft Religion) das Glück, am Mittwoch, 1. Dezember „Sonny“ (selbst frisch geboostert, und mit einer 2G+-Regelung) begrüßen zu können. Es war in einiger Hinsicht eine Premiere. Neben dem einzigen präsentischen Zeitzeugengespräch innerhalb der Woche war Sonny das erste Mal an einer Schule als Zeitzeuge zu Gast.
Seine enorme Ausstrahlung lässt sich schwer beschreiben. Vielleicht rührt sie aus dem, was er selbst sagt: „Ich könnte tagelang erzählen. Manchmal liege ich nachts wach, dann kommen die Erinnerungen, an diese Jahre … Ich wollte von all dem nichts wissen, 60 Jahre lang. …“
Am 14.Februar 1945 wurde Helmut Sonneberg mit seiner jüdischen Mutter von der Großmarkthalle Frankfurt aus auf einer viertägigen Fahrt in Viehwaggons nach Theresienstadt deportiert. Dieser schrecklichen Erfahrung waren sieben Jahre der Isolation vorausgegangen, in denen er sich kaum oder nur heimlich (manchmal mit einem geschickt genähten Kragen, an dem der „Judenstern“ nicht zuerst erkennbar war) in die Öffentlichkeit traute. Eine Zeit lang verbrachte er im jüdischen Waisenhaus Frankfurt, als jüdischer Junge wurde er beschimpft und bespuckt. Das sei eine ganz schlimme Erfahrung – bespuckt zu werden.
Die teilnehmenden Schüler*innen waren begeistert von der Möglichkeit, mit einem 'echten' Zeitzeugen vor Ort sprechen zu können. Vielfache und differenzierte Rückmeldungen gaben sie ihren Lehrer*innen anschließend. So wurden auch die „Nürnberger Gesetze“ in der Geschichte von Sonnys Familie sehr präsent. Er selbst hatte einen jüdischen Vater, den er nie kennen lernte, während seine jüngere Schwester als „Geltungsjüdin“ Tochter eines katholischen Vaters war, der sich aber vorbehaltlos für seinen Helmut einsetzte. Vor allem Sonny Worte am Ende der Begegnung an die Schüler*innen, bereit zu sein, auch ein hartes Schicksal auf sich zu nehmen, machten einen großen Eindruck auf sie. Noch viele Fragen haben sie aufgeschrieben, die sich während des Gespräches für sie auftaten, und vielleicht gibt es in 2022 eine Möglichkeit, diese zu beantworten. Wenn er gesund sei, so Sonny, werde er diese wahrnehmen.
Ein ausführlicher Bericht zur Begegnung mit Helmut Sonny Sonneberg ist auf der Website der Schule zu finden. Hierzu ein Dank an die Geschichtslehrer*innen des Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums Hendrik Raab (nicht nur für die aufgenommenen Fotos), Silke Obermöller und Iris Hofmann.
Donnerstag, 2. Dezember - Antwerpen und Lahnstein

Am Donnerstag Vormittag war Henriette Kretz mit der ganzen Jahrgangsstufe 12 des Johannesgymnasiums Lahnstein online verbunden. Diese hatte sich, zusammen mit der Geschichtslehrerin Julia Ernst, Henriette Kretz als Zeitzeugin ausdrücklich gewünscht. Es gab von Seiten der Schule und des Schulleiters, Herrn Loch, schon vor Jahren Kontakte zu Henriette Kretz, die Herr Loch in seiner Begrüßung zu Beginn der Begegnung erwähnte. Diese fand kurzfristig komplett als Zoom-Konferenz statt, nachdem mehrere Schüler*innen positiv auf Corona getestet worden waren. So saß Henriette Kretz in Antwerpen vor 114 Bildschirmen, von denen die meisten ihre Gesichter zeigten, was sie persönlich sehr freute und wodurch sie auch auf ihre schon erwähnte Art Schüler*innen direkt ansprechen konnte. „Ich erzähle für die Zukunft, denn die Vergangenheit kann ich nicht ändern.“ Und sie erzählt ihre „traurige Geschichte“ in der Hoffnung, dass die Erde besser werden kann, die uns allen gehöre. Ihre Worte, die sie unmittelbar nach der Ermordung ihrer Eltern in sich spürte „Lauf oder du stirbst.“ hallten noch lange nach. Aber auch ihre optimistische Antwort auf eine Frage: „Chancen sind immer.“
Es kamen auch Fragen zum Buch „Hass und Versöhnung“, das auf Gesprächen von ihr mit dem Autor Rainer Engelmann beruht, und welches ein Teil der Schüler*innen mit ihrer Lehrerin Julia Ernst vorbereitend gelesen hatte. Um 13.15 Uhr, nach einer intensiven Begegnung von über zweieinhalb Stunden, konnte sich Marc Fachinger nur für das Teilen ihrer Geschichte und die hohe Aufmerksamkeit und das Dabeisein aller bedanken.
Freitag, 3. Dezember - Prag und Oberursel
Sie hatte die Zeitzeugenwoche eröffnet und beendete diese auch am Freitag, 3. Dezember – Michaela Vidlakova aus Prag.
Die Worte, die sie am Ende ihrer Geschichte sprach: „Es ist wahr.“ Und „Ich möchte mir nur wünschen, nie wieder …“ sind Worte, die sie gleichsam für alle Begegnungen und auch stellvertretend für alle Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in dieser Woche gesprochen hatte.
Nach solchen Begegnungen stellt sich ja immer die Frage, was daraus zu lernen oder wie weiterzugehen ist. (Diese Frage stellt sich auch immer neu in der Organisation solcher Zeitzeugenbegegnungen.)
Wie am Montag gab es auch am Freitag die Möglichkeit, dass der Leiter der Zeitzeugenprojekte, Marc Fachinger, anschließend mit den Schüler*innen des Geschichtskurses der Jahrgangsstufe 11/II noch sprechen konnte. So kamen viele Rückmeldungen zusammen: „Zum 1. Mal gehört, wie es damals wirklich war. – Das gibt für mich nun ein kompletteres Bild dieser Zeit. – Die Präsentation mit den Bildern war sehr wichtig. – Wir müssen uns immer wieder mit dieser Zeit beschäftigen. – Das ist wohl das wichtigste Thema für uns, damit so etwas nie wieder vorkommt.“
Wie am Montag zitierte Michaela Vidlakova am Ende auswendig das Gedicht „Emigrantenlied“ von Ilse Weber, welches hier auch in ganzer Länge als Abschluss und Ausblick dieser letzten Zeitzeugenwoche in 2021 stehen soll.
Ilse Weber - Emigrantenlied
Schluck runter die Tränen, verbeiß deinen Schmerz,
hör nicht auf das Schimpfen und Schmähen!
Dein Wille jedoch sei hart wie das Erz,
die Not zu überstehen.
Denn alles wird gut, denn alles wird gut,
ertrag geduldig das Warten.
Vertraue der Zukunft, verlier nicht den Mut,
die Welt wird wieder zum Garten!
Dann endet die Zwietracht, der Haß und die Gier,
und alles Leid hat ein Ende.
Dann sagt dein Feind »Bruder Mensch« zu dir
und reicht beschämt dir die Hände.
Denn alles wird gut, denn alles wird gut,
ertrag geduldig das Warten.
Vertraue der Zukunft, verlier nicht den Mut,
die Welt wird wieder zum Garten!
Und du brauchst nicht länger mehr ferne zu stehn,
wenn andre sich freuen und lachen.
Für dich auch wird die Sonne aufgehn,
für dich das Vöglein erwachen!
Denn alles wird gut, denn alles wird gut,
ertrag geduldig das Warten.
Vertraue der Zukunft, verlier nicht den Mut,
die Welt wird wieder zum Garten!
Für dich strahlt die Sonne, für dich grünt der Baum,
du hast wieder Heimat und Brüder.
Das Böse vergeht wie ein schwerer Traum,
das Leben beseligt dich wieder.
Denn alles wird gut, denn alles wird gut,
ertrag geduldig das Warten,
vertraue der Zukunft, verlier nicht den Mut,
die Welt wird wieder zum Garten!
Ilse Weber
(aus der Sammlung „In deinen Mauern wohnt das Leid“)
Denn alles wird gut, denn alles wird gut,
aus: Ilse Weber, Emigratenlied
ertrag geduldig das Warten,
vertraue der Zukunft, verlier nicht den Mut,
die Welt wird wieder zum Garten!
